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Die europäische Automobilbranche zittert – Risiken steigen ungebremst

Die großen Automobilhersteller zerbrechen sich die Köpfe wie sie der Risiken her werden können. Die Zulieferer stehen bereits unter größerem Druck. Sie kämpfen nicht selten bereits um ihre Existenz.

Juli 2022 – Stagnierende Umsätze, die Angst vor Zombie-Unternehmen und der grüne Wandel stellen die Kreditwürdigkeit der Zulieferer in der europäischen Autoindustrie in Frage. Wir nehmen die Situation in Deutschland, Frankreich und Italien unter die Lupe.

Verschiedene Aspekte setzen den europäischen Autobauern zu

Erst der Handelskrieg zwischen den USA und China, dann der weitverbreitete Mangel an Halbleitern nach der Pandemie in Verbindung mit gestiegenen Rohstoffpreisen. Jetzt treibt der Krieg in Europa die Energie- und Materialpreise noch weiter in die Höhe – und gleichzeitig kommt es zu Unterbrechungen bei der Lieferung von Kabeln, Stahl und anderen in der Ukraine hergestellten Komponenten. Darüber hinaus hat die Autoindustrie mit der Umstellung von Verbrennungs- auf Elektromotoren begonnen.

All diese Faktoren bereiten den großen Automobilherstellern Kopfzerbrechen. Was für gewichtige Akteure ein Ärgernis sein mag, kann sich jedoch für ihre Zulieferer zu einem Kampf auf Leben und Tod entwickeln. Um die Lage einzuschätzen, beleuchtet dieser Artikel das Risikoumfeld der Automobilindustrie in Deutschland, Frankreich und Italien.

Deutschland: Die Angst vor den Zombie-Unternehmen

Trotz der erwähnten Herausforderungen verdienen die großen Automobilhersteller in Deutschland hervorragend. Sie mögen zwar mit ihrer Produktion zu kämpfen haben – die hohe Nachfrage erlaubt es jedoch, ihre Autos ohne größere Rabatte zu verkaufen. Parallel dazu richten sie ihre Produktion auf Modelle mit höheren Gewinnspannen aus.

Völlig anders dagegen ist die Situation bei den Zulieferern in der Autoindustrie. Die niedrigen Produktionszahlen führen zu geringerer Nachfrage, und einige Firmen haben Schwierigkeiten, die steigenden Kosten in der Wertschöpfungskette weiterzugeben. Vor allem bei den Tier-2- und Tier-3-Zulieferern der Zulieferpyramide gerät die Liquidität unter Druck.

Die Herausforderungen durch die Pandemie machen der Branche ohnehin zu schaffen. Zudem deutet die historisch niedrige Zahl an Insolvenzen unter den deutschen Autobauern darauf hin, dass die Zahl der Zombie-Unternehmen, die die letzten Jahre nur dank staatlicher Unterstützung überlebt haben, steigen könnte.

Jens Stobbe, Atradius-Risiko-Underwriter mit Erfahrung in der deutschen Automobilindustrie, sieht das größte Risiko bei Zulieferern, die mit ernsthaften Problemen innerhalb ihrer eigenen Lieferkette konfrontiert sind – ganz gleich, ob es um fehlende Teile wie Kabelbäume, Halbleiter oder andere aktuell gesuchte Produkte geht.

Frankreich: Die Produktion schrumpft

Im vergangenen Jahr lag die Autoproduktion in Frankreich um 37 % niedriger als 2019. Auf globaler Ebene war sie 2021 um 14 % geringer als in 2019, sodass Frankreich hinter das weltweite Produktionsniveau zurückfällt.

car_repair_10_fullcolor_3c_hrLaut Audrey Palmade, Atradius Underwriter für die Automobilindustrie in Frankreich, ist die Versorgungssicherheit derzeit das größte Problem der Branche. Es mangelt an allem – von Mikrochips bis hin zu LKW-Fahrern. Seit elf Monaten in Folge gehen die Verkaufszahlen für Fahrzeuge zurück, und die Warteliste für ein neues Auto beträgt bis zu einem Jahr.

„Wir sehen das größte Risiko bei allen Zulieferern unterhalb von Tier-1. Sie haben sowohl mit der Nachfrage als auch mit dem Angebot zu kämpfen. Die Autohersteller starten und stoppen ihre Produktion derzeit abrupt. Das bedeutet, dass sie manchmal Aufträge in letzter Minute stornieren“, erläutert Audrey Palmade und betont, dass die meisten Zulieferer, die in Schwierigkeiten geraten sind, bereits identifiziert wurden. Sie haben entweder Insolvenz angemeldet oder wurden von Investoren aufgekauft.

Aber: In Frankreich braut sich noch mehr Ärger zusammen. Renaults Verbindungen zu Russland könnten der französischen Automobilindustrie einen hohen Preis abverlangen. Vor dem Krieg war Renault Eigentümer des größten russischen Automobilwerks – inzwischen wurde dieses von der russischen Regierung übernommen.

Gleichzeitig war Russland nach Frankreich der zweitgrößte Markt für Renault und sorgte für die Hälfte des Betriebsergebnisses von Renaults Automobilsparte. Nach Einschätzung von Audrey Palmade beeinflusst dies die Zulieferer auf allen Ebenen der Lieferkette.

Italien: Die Herausforderungen begannen schon vor der Pandemie

Bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2018 verlangsamte sich die Produktionsrate der Automobilindustrie in Italien. 2020 schließlich war ein rabenschwarzes Jahr. 2021 nährte zunächst die Hoffnung auf ein Comeback. Doch dann kam laut Laura Balestrazzi, Atradius-Underwriter mit Expertise in der italienischen Automobilindustrie, die erhöhte Aktivität aufgrund eines Mangels an Halbleitern und steigender Inputpreise zum Stillstand.

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In der Folge lag das Jahr 2021 um 8,5 % unter dem Niveau von 2019. Allerdings: Laut Laura Balestrazzi hatte die italienische Automobilindustrie schon vor der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine Probleme mit der Rohstoffversorgung zu einem guten Preis.

„Wir haben gesehen, wie China sich für die eigene Produktion Seltene Erden in Afrika und Südamerika sicherte, die für die Elektroautoindustrie von entscheidender Bedeutung sind. Dieser Prozess macht es den Europäern künftig noch schwerer, mit den chinesischen Herstellern zu konkurrieren.“

Für 2022 rechnet Laura Balestrazzi mit einem langsamen Wachstum. Sie empfiehlt – ähnlich wie für Frankreich und Deutschland – ein Auge auf die Tier-2- und Tier-3-Zulieferer zu haben, insbesondere auf jene, die Rohstoffe verarbeiten. Im Allgemeinen haben kleinere Unternehmen weniger Verhandlungsmacht und eine geringere Gewinnspanne, was sie anfälliger für Preisänderungen bei Energie und Rohstoffen macht.

Und einen weiteren Faktor sollten Unternehmen bei Geschäften auf Kreditbasis in Italien berücksichtigen: Hat der Handelspartner als Entlastung während der Pandemie größere Kredite in Anspruch genommen, die zurückgezahlt werden müssen? Die Rückzahlung von COVID-Darlehen in Italien beginnt in diesem Jahr und in 2023.

Alles in allem prognostiziert Laura Balestrazzi, dass die nächsten Jahre für viele mittlere und kleine Unternehmen in der italienischen Automobilindustrie hart werden.

 

Noch mehr Ausblicke und Einblicke

Die Publikationen von Atradius geben einen Überblick über die Wirtschaftslage in mehr als 40 Ländern sowie Ausblicke auf den Handel wichtiger Industrien.

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